Erschienen im MITEINANDERSEIN 111 (Dezember 2025 bis Februar 2026)

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01.12.2025 ⋅ Buch, Märchen

Neugeboren aus dem Wolfsleib

Aus vorchristlicher Zeit sind uns leider weder Zeremonien noch alte Gesänge erhalten geblieben, außer ganz einzelne Texte wie die Merseburger Zaubersprüche. Aber aus alten Märchen können wir noch einiges über die Denkweisen und Bräuche unserer Vorfahren ablesen, denn die Ursprünge unserer Märchen reichen bis in die alte Steinzeit zurück. Ein altes schamanisches Wandlungsritual, das zur Zeit der Wintersonnenwende durchgeführt wurde, klingt im Märchen „Rotkäppchen“ an.

Eine sehr zentrale Rolle im „Rotkäppchen“ spielt der Archetyp des Wolfs. In den alten Kulturen Nordeuropas stand der Wolf in hohem Ansehen. Das zeigen uns noch Namen wie Wolfgang oder Wolfsburg, etc. Bei den Kelten und Germanen war der Wolf den Anführern zugeordnet. Ähnlich betrachteten die nordamerikanischen Urvölker den Wolf als Lehrer und Führer in geheiligten Dingen. Eine positive Bedeutung wird dem Wolf auch in der Legende von der Gründung der Stadt Roms zugesprochen. Die Gründungsväter Romulus und Remus sollen von einer Wölfin gesäugt und aufgezogen worden sein.

Der Wolf verkörpert Instinktsicherheit, Vertrauen in die eigene Kraft, feine Sinne, innere Geborgenheit und Wärme. Er lehrt uns, uns den Umständen anzupassen und trotzdem unserer Vision zu folgen. Der Wolf steht für den Zugang zu unserer inneren Weisheit, für Gemeinschaft und für Führungsqualitäten. Um sich mit diesen Eigenschaften zu verbinden, legten sich unsere germanischen Vorfahren zu kultischen Zwecken Wolfsfelle um. Das ging sogar so weit, dass die Menschen glaubten, das Tier tatsächlich zu sein. Sie verwandelten sich in einen Werwolf, das heißt „Mann- oder Menschenwolf".

In einer Kirchenakte zu einem Hexenprozess wurde ein alter Fruchtbarkeitsritus überliefert. Am Luciatag, der damals auf die Wintersonnenwende fiel, legten sich Männer Wolfsfelle um und begaben sich in die weiten Wald- und Sumpfländer fernab der Dörfer. Dort kämpften sie mit einer Unzahl böser Hexen und Zauberer, die das Korn geraubt hatten und nahmen ihnen dieses ab. Also: Im Winter, nachdem sich die Fruchtbarkeit in das Innere der Erde zurückgezogen hat, begeben sich die Werwölfe an einen abgelegen Ort, um das Wachstum für die Felder wieder zurück zu holen.  Das ist ein klassisch-schamanischer Fruchtbarkeitsritus. Die Fruchtbarkeit wird durch die Wölfe wiedergeboren (Thomas Höffgen, Schamanismus bei den Germanen, S. 98).

Dieses alte Wandlungsritual klingt im „Rotkäppchen“ an. Die Großmutter, die im Wald lebt und einen Wolfspelz trägt, verschlingt das junge Rotkäppchen. Später wird es aus dem Wolfsleib neu geboren! 

Mehr Deutungen alter Märchen findest Du in meinem Buch „Die Kristallkugel – Märchen als Schlüssel zum wahren Selbst“. Ich deute die Symbole von 11 alten Märchen aus unserem Kulturkreis sowie des Inanna-Mythos aus der Zeit der Matriarchate.

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Dr. Grit Ludwig · Systemische Selbst-Integration online und Märchen als Schlüssel zum wahren Selbst, Heilpraktikerin für Psychotherapie · Tel. 0176 63788112 · www.dr-grit-ludwig.de · Telegram: t.me/drgritludwig