Erschienen im MITEINANDERSEIN 110 (September bis November 2025)

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01.09.2025 ⋅ Bewusstsein

Der Tanz der Potenziale geht nicht allein, sondern nur Miteinander

Auf den Tanzflächen des Erwachsenwerdens sehe ich so viele alleinerziehende Mütter, die sich selbst führen, und so viele Kinderaugen, die ungläubig ihren stolzen Universal-Müttern zujubeln dürfen, wie sie mit verzweifelter Zuversicht in eine Leere greifen, wo früher ein Mann war. Diese Kinderaugen erkennen in ihrer Klarheit jedoch nicht die gewünschte Illusion von Vollkommenheit und heiler moderner Welt, sondern die Leere, die reale, faktische Leere und die Künstlichkeit der Illusion. Diese Leere nehmen sie im Herzen und im Kopf in ihr Erwachsenwerden, in ihr weiteres Leben, in unsere Gesellschaft und in eine immer leerer werdende Zukunft mit. Und ganz nebenbei weicht die Klarheit der Übernahme dieser mütterlichen Illusion. Einer Weichheit im Umgang mit Selbstbetrug. Die aktuelle Konstellation kann im Großteil zu verweichlichten Männern und verhärteten Frauen führen. Zumal ich allerdings betone, dass dies ein Abbild einer traumatisierten Kindergesellschaft darstellt. Somit sind diese Menschen nur unzureichend oder kaum emotional reif.

Was ihnen fehlt, könnte in gewisser Weise als Initiation ins Mannsein und parallel ins Weibsein benannt werden. Hier geht es darum, Klarheit darüber zu erhalten, was Mannsein und was Weibsein tatsächlich impliziert und wie wir in dieser schnelllebigen, aufregenden und zum Teil chaotischen Welt danach leben können.

In traditionellen Kulturen waren diese Einweihungen in das Erwachsenenalter durch verschiedene Rituale geprägt. Zumeist gab es eine dreistufige Initiationszeremonie, die aus einer bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit bestand. Die eigene Vergangenheit, Identität und die eigenen Ziele werden reflektiert. Es ist eine Phase der Selbstfindung. In der Grenzphase wird der Übergang von der Gemeinschaft gefeiert und es erfolgt die Anerkennung als vollwertiger Mann oder vollwertiges Weib. Im dritten Schritt erfolgt die vollständige Integration des frisch Initiierten in die Gemeinschaft der Erwachsenen.

Überbleibsel dieser Stammeskulturellen Werte sind noch in Form der Konfirmation oder auch Jugendweihe erhalten geblieben. Jedoch ist hier zumeist die erste und dritte Phase verkümmert oder gar nicht enthalten. Dementsprechend lässt sich in modernen Gesellschaften in dem Altersspektrum der Heranwachsenden vermehrt ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verlorenheit wiederfinden. Ohne alternative Angebote, die den inneren Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit befrieden, tendieren viele Jugendliche eher zum Konsum von Alkohol, Medien, Drogen, Partys und wahllosem Sex. Mögliche Lösungsansätze sind z. B. die Schaffung alternative Angebote für Jugendliche, die sie dabei unterstützen, ihre persönliche Entwicklung zu fördern. Weiberkreise und Männerkreise bieten hierbei eine wunderbare Alternative, in den Austausch mit dem gleichen Geschlecht über Werte und Orientierungsmöglichkeiten zu gelangen. Auch die psycho-emotionale und energetische Aufarbeitung der eigenen Fehlprägungen und Programmierungen kann ein entscheidender Schlüssel für die eigene klare Selbstfindung als Weib oder Mann sein. 

Letztlich darf mehr Bewusstsein in unser Leben Einzug halten. Denn das, was fehlt, will nicht ersetzt, sondern neu verstanden werden. Es ruft nach Bewusstwerdung, nach einem Integrationsprozess, der über Rollenbilder hinausgeht und die innere Vielschichtigkeit sowohl von Männern als auch von Weibern zulässt. 

Denn der Tanz, um den es heute geht, ist nicht der alte Reigen von führen und folgen, nicht das starre Zuordnen männlicher und weiblicher Anteile – sondern ein schöpferischer Dialog, in dem Leere und Fülle, Sehnsucht und Gestaltungskraft gemeinsam wirken. Unsere Gesellschaft wird nicht heiler, indem wir Leere überspielen. Sie wird heiler, wenn wir Mut haben, die Lücke zu fühlen und daraus neue Qualitäten wachsen zu lassen: Mut zur Selbstführung kann durch die Einladung zur Verbundenheit ergänzt werden. Weibliche Stärke darf sich mit männlicher Präsenz verweben – nicht nur im Außen, sondern im Innersten jedes Einzelnen.

So wird aus Leere kein Mangel, sondern die Möglichkeit für einen neuen Tanz. Einen, bei dem jeder Mensch aus seiner eigenen Essenz heraus beiträgt – ganz gleich, welches Geschlecht, welche Geschichte oder Herkunft.

Vielleicht sieht so der Schritt von der bloßen Rolle ins wirkliche Bewusstsein aus. Denn am Ende gilt: Mann sein. Weib sein. Bewusstsein. Diese Choreografie lernen wir miteinander, für uns alle. Damit der Tanz der Potenziale auf fruchtbarem Boden voranschreiten kann.

Anbieter

Dr. Julia König · Institut für Bewusstseinsentfaltung · wissenschaftl. fundierte Vorträge, Seminare und Beratung zur Zirbeldrüse, Körper-Geist-Verbindung, Buddhismus, Herzöffnung, Meditation, Erdmannstr. 3, 04229 Leipzig · info@drjuliakoenig.de · Tel. 0176 63456878 · www.institutbewusstseinsentfaltung.de